Page 40 - DRW Gemeinsam - 10/2020
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Das Porträt
Adressfeld für den Postversand
Holger Lauerer, Heilerziehungspfleger
und akribischer Wissenssammler
Der Mann aus dem Jahr 1250
Ein bisschen finster blickt er schon drein und stellt gleich
zu Beginn klar: „Bei mir gibt es keine kurzen Antworten.“
Holger Lauerer, 52 Jahre alt, dunkel gekleidet, markanter
Vollbart und seit 30 Jahren Heilerziehungspfleger aus Foto: martinrehm.com
Überzeugung. Schon auf den ersten Blick: Ein Mann „aus
echtem Schrot und Korn“.
Und einer, der für seine Arbeit – die Begleitung von Men- Begonnen hat es mit dem Nachbau und dem Verkauf von
schen mit hohem Pflege- und Assistenzbedarf in der DRW- historischen Holzfunden. Dann wurde er zum Köhler, der
Wohneinrichtung Don-Bosco in Augsburg – brennt. Die Be- auf althergebrachte Weise Holzkohle produzierte. Mittler-
dürfnisse seiner Klienten rangieren für ihn ganz oben. Denn weile besitzt er auch eine stattliche Fachbibliothek des
Holger Lauerer hat ein Ziel: Menschen mit Behinderung am Mittelalters, die er unter anderem in unzähligen Antiquari-
gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. Dazu gehört aten im In- und Ausland zusammengetragen hat und stän-
es auch, mit einem Menschen mit schwerer geistiger und dig erweitert.
körperlicher Behinderung zum Schuheinkauf und anschlie-
ßend ins Café zu gehen. "Ganz normal eben", sagt er, auch Auf Schloss Kaltenberg in der Nähe von Landsberg am Lech
wenn man dabei manchmal komisch angeschaut wird. hat Familie Lauerer eine zweite Heimat gefunden. Seit vie-
len Jahren bereichert sie dort die alljährlichen Ritterspiele.
Zur Teilhabe gehört für Lauerer auch die Liebe zum Detail. In Eigenleistung bauen sie zudem ein originalgetreues mit-
Deutlich wird das beim Faschingsball für die Bewohnerin- telalterliches Gehöft aus dem Jahr 1250 auf dem Schlossare-
nen und Bewohner, der immer unter einem besonderen al auf. Sie möchten Geschichte ganzjährig lebendig vermit-
Motto steht. Dieses Motto – heuer war es „Titanic“ – wird bis teln – am eigenen Leib sozusagen. Denn Holger Lauerer ist
ins letzte Detail mit Enthusiasmus und Akribie ausgearbeitet überzeugt: „Wenn ich nicht weiß, wo ich herkomme, ist es
und umgesetzt: Schmucklose Kellerräume wurden zu prunk- unmöglich, die Gegenwart und die Zukunft zu verstehen.
vollen Räumlichkeiten des berühmten Luxusliners verwan- Wissen um Zusammenhänge ist wichtig, um in unserer kom-
delt. Mit diesen „Eintauchwelten“, wie er sie nennt, möchte plexen Gesellschaft bestehen zu können.“ Dabei will er Ge-
Holger Lauerer es anderen Menschen ermöglichen, Ge- schichte nicht verklären. Dass beispielsweise bei den ein-
schichte möglichst detailgetreu zu erleben. schlägigen Mittelalterfestivals „auf Teufel komm raus“
„Eintauchwelten“ sind für Holger Lauerer mehr als Hobby. Fleisch und andere Köstlichkeiten gegrillt werden, wundert
Sie sind seine Mission. Möglichst oft schlüpft er gemein- ihn. Das mag zwar der heutigen Vorstellung eines zünftigen
sam mit seiner Frau und den vier Kindern in die Rolle ei- Gelages damals entsprechen, „aber wertvolles Fett ins Feuer
ner Handwerkerfamilie aus dem 13. Jahrhundert. Um ein tropfen zu lassen hätte sich im Mittelalter niemand leisten
romantisches Abtauchen in eine Fantasiewelt geht es ihm können. Stattdessen wurde Fleisch im Wasser gekocht, um
dabei allerdings nicht. Lauerer möchte Geschichte mög- möglichst alle Inhaltsstoffe im Essen zu haben.“ Und als er
lichst authentisch vermitteln: Kleidung, Behausung, Nah- das erzählt, huscht ein Schmunzeln über das jetzt gar nicht
rung, Werkzeug – alles soll so echt wie möglich sein. mehr so finster dreinblickende Gesicht. Markus
40 Landherr