Page 4 - DRW Gemeinsam - 03/2022
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GEMEINSAM: Wen haben Sie
„Schafft es bis nach Polen, um Hilfe gebeten?
Viktoria Putina: Es gab da
dann übernehmen wir“ einen ehrenamtlichen Helfer,
der mir einen Kontakt nach
Polen vermittelt hat. Ich
Viktoria Putina, die Direktorin des Kinderheims, das in Ursberg eine Zuflucht vor
dem Krieg gefunden hat, äußert sich erstmals in einem Interview über ihre Flucht brauchte eine Genehmigung
der Regierung, die sicher-
Als am 3. April dieses Jahres Viktoria Putina: Das Ganze stellen wollte, dass
zwei polnische Militärflug- hat eine Vorgeschichte. Bei es sich bei der gan-
zeuge mit 23 mehrfachbehin- uns begann es damit, dass zen Aktion um seri-
derten Kindern und Jugendli- wir am 24. Februar zum ers- öse Hilfsorganisa-
chen aus der Ukraine am ten Mal die Alarmsirenen tionen handelte. Als
Flughafen Memmingen lan- hörten. Wir waren völlig un- das klar war, halfen
deten, die von dort mit Fahr- vorbereitet und wussten sie uns auch mit
zeugen des Bayerischen Ro- anfangs nicht einmal, was eigenen Kontakt-
ten Kreuzes ins Dominikus- die unterschiedlichen Sire- adressen weiter.
Ringeisen-Werk (DRW) nach nentöne bedeuten, ob eine Hilfsorganisationen
Ursberg gebracht wurden, Rakete über uns hinwegfliegt aus Polen und
fand eine strapaziöse und ge- oder ob tatsächlich ein Österreich wären
fährliche Flucht ihr vorerst Bombardement unserer bereit gewesen, uns
glückliches Ende. Bereits Stadt drohte. Aus Sorge be- aufzunehmen. Aber
einen Tag zuvor waren 34 gannen wir, Matratzen in immer wenn es
Bewohner des Kinder- und unseren Keller zu räumen. darum ging, wie die
Jugendheimes mit dem Flug- Unser Keller im Heim ist ein Viktoria Putina Kinder transportiert
zeug am Münchner Flughafen Meter vierzig hoch, stellen- werden sollten,
angekommen. Weitere 25 weise nur ein Meter zwanzig Es gab Liefer- winkten alle ab. Wie das
schwer mehrfachbehinderte und er ist durchzogen mit schwierigkeiten vonstattengehen sollte,
junge Menschen kamen am Rohren und Kabeln. Dorthin beim Essen und für wusste keiner zu sagen.
selben Tag mit dem Bus über brachten wir die Kinder, die GEMEINSAM: Wie kam dann
Görlitz an der deutsch-polni- laufen konnten. Medikamente. letztendlich der Kontakt mit
schen Grenze nach Ursberg. GEMEINSAM: Was geschah dem DRW zustande?
Viele Helfer in der Ukraine, mit den Bewohnern, die GEMEINSAM: Und dann kam Viktoria Putina: Mitte März
Polen und Deutschland sorg- nicht laufen können? die Entscheidung, das Land kam eine deutsche Organi-
ten dafür, dass diese groß Viktoria Putina: Damals wa- zu verlassen? sation (die Caritas, d. R.) auf
angelegte Rettungsaktion ren es noch 96 Kinder und Viktoria Putina: Als ehren- uns zu mit der Bereitschaft
erfolgreich verlaufen konnte. etwa die Hälfte davon konn- amtliche Helfer mit einem und den Möglichkeiten, sich
82 junge Menschen mit Be- ten laufen. Aber natürlich Lastwagen kamen, um die um den Transport unserer
hinderung samt mitgereis- weinten sie und schrien vor Fenster im Erdgeschoss mit Kinder kümmern zu können.
ten Pflegerinnen und deren Angst in der fremden Umge- Sandsäcken gegen die Druck- Durch diese Organisation
Angehörigen fanden im DRW bung und in dem niedrigen, wellen möglicher Detonatio- kam auch der Kontakt zu Dr.
eine sichere und geschützte dunklen Keller, wo man nur nen zu schützen, brachten wir Telnyk und etwas später zu
Bleibe in einem eigens er- ganz gebückt stehen konnte. die Kinder aus dem Keller in Wolfgang Unger, die beide
tüchtigten Haus. Wie es ih- Vor Aufregung bekamen viele einen großen Veranstaltungs- beim DRW arbeiten, zustan-
nen nach knapp einem Vier- auch epileptische Anfälle. Wir saal im Erdgeschoss. Die bett- de. Mit beiden standen wir
teljahr geht, darüber spra- waren zu der Zeit auch nur lägerigen Kinder mussten wir in sehr enger Verbindung.
chen wir mit der Direktorin neun Frauen und ein Wach- dennoch im ersten Stock Sie stellten viele Fragen zum
des evakuierten Heims Vikto- mann für alle Kinder und lassen. Ganz schlimm war es, Gesundheitszustand unserer
ria Putina (48). dass immer mehr Mitarbeiter
schnell wurde uns klar, dass Kinder: Was sie essen, wel-
GEMEINSAM: Frau Putina, wir die bettlägerigen Bewoh- flüchteten. Die riefen an und che Medikamente sie be-
Sie leben mit Ihren Mitarbei- ner nicht über die Treppe sagten: „Ich komme heute kommen usw. Da wussten
terinnen und den Ihnen an- nach unten schaffen konnten. nicht zur Arbeit. Ich bin schon wir, es wird ernst.
vertrauten Kindern nun seit Wir waren einfach am Ende an der Grenze.“ Ich konnte GEMEINSAM: Dennoch dauer-
fast drei Monaten in Ursberg. unserer Kräfte. Uns wurde das verstehen. Die hatten ja te es, bis sie am 3. April end-
Können Sie uns die Flucht klar, dass wir keine Hilfe von auch Familie. Mir wurde klar, lich alle sicher in Deutsch-
aus dem Kriegsgebiet ein- außen bekommen würden. dass ich vielleicht irgend- land waren. Wie kam es zu
mal schildern? wann alleine dastehen könn-
te mit den Kindern. dieser Verzögerung?
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