Page 5 - DRW Gemeinsam - 03/2022
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Viktoria Putina: Uns fehlten                                                      sagen, dass ich mich an viele
       noch wichtige Dokumente.                                                          Einzelheiten gar nicht mehr
       Ich bin gesetzliche Betreue-                                                      erinnere. Ich war zu diesem
       rin für die 82 Kinder, die jetzt                                                  Zeitpunkt so müde. Wir wa-
       hier sind. Im Heim waren                                                          ren alle so erschöpft und
       auch noch 14 Kinder, für die                                                      wollten nur noch schlafen.
       ihre Eltern die Sorgeberech-                                                      GEMEINSAM: Nun sind Sie
       tigung haben. Diese Kinder                                                        hier in einem eigenen Haus
       wurden in einem anderen                                                           in Ursberg untergebracht
       Heim untergebracht. Ich                                                           und haben sich schon ein
       selbst bin in dieser Zeit fast                                                    bisschen eingelebt. Wie ha-
       nur noch zum Schlafen nach                                                        ben Sie, wie haben die Kin-
       Hause gefahren. Es gab be-                                                        der die Umstellung verkraf-
       reits Lieferschwierigkeiten                                                       tet? Wie weicht Ihr Leben
       beim Essen und für Medika-                                                        und Ihre Arbeit von dem in
       mente. Zusätzlich musste ich                                                      Ihrer Heimat ab?
       mich um die geforderten
       schriftlichen Unterlagen                                                          Viktoria Putina: Ehrlicher-
       kümmern. Als für alle Perso-  Auf dem Bahnsteig von Krywyi Rih, der Heimatstadt der Flüch-  weise war ich anfangs ziem-
       nen die entsprechenden      tenden. Gleich beginnt die mühevolle Fahrt mit dem Evakuie-  lich erschrocken, dass die
       Dokumente vorlagen, organi-  rungszug gen Westen.                                 Kinder in so vielen Zimmern
       sierten die Abgeordneten                                                          nur zu zweit oder zu dritt
       unserer Stadt drei Waggons   gontüren auf den Bahnsteig            Die polnischen    untergebracht waren. Zu-
       für uns in einem Zug nach   gestellt. Nur die Gespräche       Ehrenamtlichen      hause waren alle in drei bis
       Polen. Wir waren 82 Kinder,   mit Dr. Telnyk, der ja eben-  gingen sehr liebe-    vier großen Schlafsälen zu-
       sieben Mitarbeiterinnen, drei   falls aus der Ukraine                             sammen. Wie, so habe ich
       Mütter und die Schwester    stammt, haben mir Kraft        voll mit unseren       mich gefragt, sollte hier die
       einer Mitarbeiterin sowie   gegeben. Er hat unsere gan-           Kindern um.     Pflege vonstattengehen? Wie
       meine eigene Tochter Kateri-  ze Zugfahrt quasi telefonisch                       sollten wir die Kinder wa-
       na mit ihren drei Kindern.  begleitet. „Schafft es bis   GEMEINSAM: Stalowa Wola   schen, wickeln, ihnen Essen
                                                                                         geben, wie die Medikamente
       GEMEINSAM: Die Zugfahrt     nach Polen, dann überneh-  war ja die Zwischenstation,   verabreichen und über sie
       war sicherlich sehr anstren-  men wir“, hat er gesagt. Und   ab der auch die Helfer von   wachen, wenn sie alle in
       gend mit so wenig Pflege-   so war es dann auch.       Caritas und DRW die Verant-  verschiedenen Zimmern lie-
       personal und so vielen pfle-  GEMEINSAM: Sie kamen     wortung für die weitere Rei-  gen? Inzwischen haben wir
       gebedürftigen Kindern. Wie   dann am 29. März nachts    se übernehmen wollten.    aber alle erkannt, wieviel
       konnten Sie das alles be-   um 23 Uhr in Stalowa Wola   Viktoria Putina: Ja. Neben   Ruhe es den Kindern gibt,
       wältigen?                   im polnischen Erstaufnah-  den vielen ehrenamtlichen   wenn sie nicht alle ständig
       Viktoria Putina: Wir fuhren   melager an. Wie haben Sie   polnischen Helfern waren   zusammen sind. Die Unruhe
       am 28. März um 16 Uhr los.   diese Ankunft erlebt?     auch viele Politiker, deut-  und die epileptischen Anfälle
       Die Zugfahrt war ein Alp-   Viktoria Putina: Die Kinder   sche Helfer und damit auch   sind deutlich weniger gewor-
       traum. Wir haben alle nur   wurden zur Erstversorgung in   endlich Wolfgang Unger und   den. Auch wird hier mehr mit
       noch funktioniert. Unser Zug   eine Halle gebracht. Davon   Dr. Telnyk da. Dr. Telnyk   dem Herzen gepflegt. In der
       war auf der Fahrt durchs    habe ich aber erst einmal   machte die erforderlichen   Ukraine machten wir
       Kriegsgebiet zum Anhalten   nicht viel mitbekommen, weil   Untersuchungen für die Ein-  24-Stunden-Schichten. Da-
       gezwungen. Strom und Licht   ich ein kleines Kind mit einem   reise nach Deutschland.   nach hatten wir drei Tage
       wurden in der Nacht stun-   schweren Anfall in das dortige   Dann konnten wir mit den   frei. Da stand die reine Ver-
       denweise ausgeschaltet, um   Krankenhaus begleiten mus-  ersten 36 Kindern im Flug-  sorgung im Mittelpunkt. Hier
       kein Angriffsziel zu bieten.   ste. Was mir aber auffiel und   zeug nach München starten.   gefallen mir der gesamt-
       Wir haben in fast völliger   was mich sehr berührt hat,   Ich habe diesen Flug beglei-  menschliche Aspekt und das
       Dunkelheit unseren völlig   war, wie zartfühlend und lie-  tet. Mit zwei Militärmaschi-  Drei-Schicht-System sehr gut.
       verängstigten und orientie-  bevoll die polnischen Ehren-  nen sollten die anderen Kin-  Die Kinder leben auf und
       rungslosen Kindern die Win-  amtlichen mit unseren Kin-  der mit den verbliebenen   machen Fortschritte. Auch
       deln gewechselt. Ohne Was-  dern umgingen. Wie vorsichtig   Pflegerinnen und Angehöri-  dank der vielen gespendeten
       ser. Das brauchten wir zum   sie sie auf die Tragen legten,   gen nach Memmingen nach-  Hilfsmittel. Wir sind alle
       Trinken. Der Gestank war    ihnen übers Haar streichelten   kommen. Von dort wurden   überwältigt von den Spen-
       erbärmlich und wir haben    und sie sogar küssten. Das   sie dann mit dem Bayeri-  den und der Hilfsbereit-
       die Abfalltüten im Schutz der   treibt mir noch heute die Trä-  schen Roten Kreuz nach Urs-  schaft von allen Seiten.
       Nacht einfach vor die Wag-  nen in die Augen.          berg gebracht. Ich muss aber


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