Page 4 - DRW Gemeinsam - 10/2021
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Thema





           Wenn die Welt zu viel ist




           Bunt, grell, laut, hektisch. Unser Alltag be-

           steht aus vielen Außenreizen. Was ist, wenn
           die Filter fehlen, um sich vor diesem Zuviel
           an Eindrücken zu schützen? Die Einrichtung

           St. Peter und Paul bietet einen geschützten
           Raum und ein Zuhause für Menschen, deren
           Welt leicht aus den Fugen gerät.
           Drei blaue Becher, ein weißer Teller und grünes Besteck.
           So muss Werners Frühstückstisch gedeckt sein. Immer.
           Jeden Tag. Jede Abweichung bringt seine Welt ins Wanken,
           bedeutet Rückschritt in seiner Entwicklung und vielleicht
           sogar Gefahr für ihn selbst und die Menschen in seiner
           Umgebung. Marion Späth weiß das. Sie ist Gruppenleiterin
           der Gruppe Manuel in der Einrichtung  St. Peter und Paul,
           die sich als Teil des Dominikus-Ringeisen-Werks am östli-
           chen Ortsrand von Ursberg befindet. Hier finden Menschen   Immer ein wachsamer Blick
           ein Zuhause, für die sonst nur schwer ein Platz zum Leben   Heute zum Beispiel ist Badetag für Martin und er freut sich,
           gefunden werden kann. Menschen jeden Alters mit Schä-  als seine Betreuerin Marion Späth ihn mit dieser frohen
           del-/Hirnverletzungen, schweren Erkrankungen aus dem   Kunde am Morgen begrüßt. Bereitwillig folgt ihr der 44-Jäh-
           autistischen Formenkreis, oft verbunden mit vielfältigen   rige aus seinem Zimmer ins große Badezimmer der Wohn-
           anderen neurologischen Handicaps. Menschen, die feste   gruppe wo Marion Späth schon alles vorbereitet hat. Ge-
           Strukturen brauchen und dennoch darauf angewiesen      nussvoll lässt er sich ins Wasser gleiten, plaudert munter
           sind, dass ihre Betreuer sehr flexibel und                           mit seiner Pflegerin, während die ihm die
           einfühlsam  auf ihre aktuellen Befindlich-      Genau so             Haare mit Shampoo aufschäumt, ihn ra-
           keiten eingehen.                                                     siert, die Haare abduscht. Gemeinsame
                                                       muss Werners             Überlegungen, was es zum Frühstück ge-
           56 Plätze                                                            ben soll und wo er es einnehmen will, fol-
           Das Dominikus-Ringeisen-Werk mit seinen     Tisch gedeckt            gen: im Esszimmer, auf der sonnigen Ter-
           beiden Häusern St. Peter und St. Paul bie-      sein. Immer.         rasse, oder ganz in Ruhe auf seinem Zim-
           tet derzeit 56 solcher Plätze. 28 in jedem                           mer? Marion Späth räumt  Shampoo und
           Haus, jeweils auf zwei Wohngruppen ver-                              Rasierzeug weg, während Martin sich im
           teilt. „Dabei darf man sich das bei uns natürlich nicht so   warmen Badewasser noch einmal ausgiebig räkelt. Alles
           vorstellen“, erklärt Marion Späth im Gespräch, „dass da   friedlich und entspannt für das ungeschulte Auge, aber Ma-
           alle 14 Bewohner fröhlich um den Frühstückstisch versam-  rion Späth hat ihren Schützling fest im Blick. Unversehens
           melt sind, zusammen fernsehen oder gemeinsamen Frei-   macht sie dem Badespaß freundlich, aber sehr bestimmt,
           zeitaktivitäten nachgehen. So viele verschiedene Außen-  ein Ende. Raus an der Wanne, abtrocknen, Hautcreme, Deo,
           reize in Form von Geräuschen, Farben und Bewegungen    Wäsche anreichen und Begleitung in Martins Zimmer. „Also
           würde keiner von ihnen schadlos verkraften.“ Deswegen   in einer halben Stunde gibt`s dann Frühstück“, ruft sie ihm
           sind genaue Absprachen zwischen den Mitarbeitern uner-  noch munter zu, während sie die Tür zu seinem Zimmer
           lässlich. Wer ist wann und mit wem beim Frühstück in dem  abschließt und erst einmal Richtung Büro eilt.
           freundlichen und lichtdurchfluteten Gemeinschaftsraum?
           Wer hält sich im Flur auf und wer belegt wann das Bade-
           zimmer und braucht dort eventuell schnelle zusätzliche
           Hilfe auf Abruf?





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