Page 8 - DRW Gemeinsam - 10/2021
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Das Interview
„Individualität ist das
A und O in unserer Arbeit“
Es gibt nicht viele Einrichtungen in Bayern wie die tragen, dass sie sich dann nicht mit irgendwelchen Stoff-
des Dominikus-Ringeisen-Werks am östlichen Orts- fetzen versehentlich strangulieren.
rand von Ursberg. Schon allein die Architektur, ein- Gemeinsam: Wie ist unter diesen Bedingungen überhaupt
geschossige Einzelhäuser durch Verbindungsgänge ein harmonischer Gruppenalltag möglich?
zu einem gemeinsamen Ganzen gefügt, fällt ins Rainhard Maier: Ganz wichtig, vielleicht das Wichtigste
Auge. Hier finden Menschen ein Zuhause, die auf- überhaupt ist das Eingehen auf die individuellen Eigenhei-
grund ihrer Hilfebedarfsgruppe 5plus besonderen ten des jeweiligen Bewohners. Ja, ich würde fast sagen,
Schutz zur Unterstützung in ihrem Alltag brauchen. Individualität ist das A und O in unserer Arbeit. Nur so ist
In den Einrichtungen St. Peter und Paul wohnen 56 es möglich, unseren Bewohnern eine Lebensqualität zu
dieser Menschen. Gemeinsam sprach mit Einrich- bieten und sie in ihrer Entwicklung zu fördern.
tungsleiter Rainhard Maier über sie und darüber, Gemeinsam: Wie muss man sich eine solche Entwicklung
welche speziellen Anforderungen diese Bewohner vorstellen?
an die bauliche Ausstattung und an die dort arbei- Rainhard Maier: Viele unserer Klienten bleiben in der Re-
tenden Pflegekräfte stellen. gel lange Zeit bei uns und ihre Entwicklung läuft trotz in-
Gemeinsam: Herr Maier, wie würden Sie das spezielle Kli- tensiver Arbeit in ganz kleinen Schritten. Aber gerade ak-
entel in Ihrer Einrichtung beschreiben? tuell haben wir den Fall eines jungen Bewohners, der vor
zweieinhalb Jahren bei uns ankam. Damals war er auf-
Rainhard Maier: In drei Worten würde ich sagen: verhaltens- grund eines richterlichen Beschlusses zeitweise durch
talentiert, originell und liebenswert. Fünf-Punkt-Fixierung zu seinem Schutz und zum Schutz
Gemeinsam: Was genau versteht man unter der „Hilfebe- seiner Umwelt in seiner Freiheit beschränkt. In geduldiger
darfsgruppe 5plus intensiv“? Arbeit gelang es unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
Rainhard Maier: Es ist einfach so, dass unsere Bewohner diese Fixierungszeit vollständig abzubauen. Er begann aus-
aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen zum Teil sehr dauernd mit einer kleinen Holzeisenbahn zu spielen, ent-
extreme Verhaltensweisen zeigen. Unter Umständen reicht wickelte ein angemessenes Sozialverhalten und wird dem-
das bis zur Selbst- und Fremdgefährdung. nächst in eine andere Wohngruppe wechseln können.
Gemeinsam: Das hört sich erst einmal nach einer höchst Gemeinsam: Inwieweit ist das der Verdienst ihrer Mitarbei-
ungewöhnlichen Wohn-, Lebens- und Arbeitssituation für terinnen und Mitarbeiter?
alle Beteiligten an. Wie darf sich ein Außenstehender das Rainhard Maier: Abgesehen vom Entwicklungspotenzial
Leben in den Häusern Sankt Peter und Paul vorstellen? des Bewohners ist das ganz entscheidend das Verdienst
Rainhard Maier: Das fängt bereits bei den baulichen Gege- der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ihre Fachkenntnis,
benheiten an, wo allein der Sicherheitsaspekt eine ganz ihre Geduld, ihr Einfühlungsvermögen gepaart mit einer
besondere Rolle spielt. Im Einzelnen bedeutet das, dass immensen Bereitschaft, im Kollegium an einem Strang zu
generell im gesamten Gebäude ausschließlich Sicherheits- ziehen, um dem einzelnen Bewohner größtmögliche Si-
glas verbaut wurde. Des Weiteren haben wir im Wohnbe- cherheit und Kontinuität zu bieten, macht so eine Entwick-
reich bruchsichere, in die Wand verbaute Schalter und lung erst möglich.
Steckdosen. Viele Waschbecken und Toilettenschüsseln Gemeinsam: Das DRW ist eine der wenigen Einrichtungen,
sind aus Edelstahl und auch die Fernsehgeräte befinden die Menschen mit Pflegestufe 5plus überhaupt aufnimmt.
sich teilweise hinter bruchsicheren Glaskästen. Daneben Wie beurteilen Sie die Nachfrage nach so einem speziellen
gibt es natürlich auch Individuallösungen für die einzel- Wohnplatz?
nen Bewohner. Rainhard Maier: Wir bekommen selbst Anfragen aus Öster-
Gemeinsam: Was bedeutet das? reich. Und es ist tatsächlich so, dass mir nur noch die Stif-
Rainhard Maier: Dazu gehört unter Umständen eine Kame- tung Liebenau am Bodensee bekannt ist als Platz für Men-
raüberwachung auf dem Bewohnerzimmer. Genauso kann schen mit dieser höchsten Pflegestufe. Darüber hinaus
es bei einzelnen Bewohnern nötig sein, die Bettmatratze gibt es meines Wissens in Dillingen innerhalb der Regens-
mit LKW-Plane zu überziehen. Es gibt Menschen, die im Wagner-Stiftung Überlegungen, eine solche Wohngruppe
Erregungszustand alles zerreißen. Wir müssen dafür Sorge einzurichten.
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