Page 5 - DRW Gemeinsam - 10/2021
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Thema
Das war ein Zeichen Reizarme Umgebung
„Haben Sie gesehen“, wird sie dort die Besucherin später Eine reizarme Umgebung, wie Martin sie in seinem Zimmer
fragen, „wie er sich an der Nase gerieben hat? Das ist ein vorfindet. Keine persönlichen Gegenstände, keine Farben,
Zeichen“, wird sie noch hinzufügen, während die Reporte- der Fernseher in einer Nische hinter Sicherheitsglas, in der
rin noch rätselt, ob sie das Nasereiben gesehen hat und Wand versenkte Lichtschalter aus Edelstahl und eine Ma-
wenn ja, was das für ein Zeichen gewesen tratze, die mit unzerreißbarer LKW-Plane
sein könnte. „Für unsere Schützlinge“, erläu- Wenn er überzogen ist. Das ist alles. Was der un-
tert Marion Späth, „sind Außenreize oft nur beteiligte Betrachter als Fehlen jeglicher
sehr begrenzt verkraftbar. Jede Abweichung sich die Nase Individualität und Wohnlichkeit wahr-
von gewohnten und eingeübten Strukturen reibt, hat er nimmt, ist für Martin ein Segen. Hier ist
kann da zu Irritationen führen, auf die un- nichts, was sein ohnehin schon überreiz-
sere Bewohner mit Angst, Verunsicherung, Stress. tes Gemüt noch mehr in Wallung bringt.
Verzweiflung oder Wut reagieren.“ Eine Wut, Hier ist alles klar und weiß und still. Hier
die blitzschnell in Aggression umschlagen kann und sich kann er zur Ruhe kommen, Kraft tanken für das bevorste-
gegen Alles und Jeden in der unmittelbaren Umgebung hende Frühstück im Gemeinschaftsraum.
entlädt. Alle Pflegekräfte müssen deshalb genaue Beob-
achter sein. Kleinste Anzeichen im Verhalten des Betreu- Mit viel Geduld
ten erkennen und deuten können, um im Ernstfall richtig Natürlich sind nicht alle Zimmer so eingerichtet wie das
zu reagieren, ist Grundvoraussetzung für die Arbeit auf von Martin. Ein geliebtes Kuscheltier wie bei Barbara oder
diesen speziellen Wohngruppen. „Bei Martin“, fährt Marion eine Holzeisenbahn, auf der stundenlang eine Lokomotive
Späth in ihrer Erklärung fort, „ist es eben ein erstes Zei- hin und her geschoben wird, wie bei Benno finden genau-
chen für Stress, wenn er sich an der Nase reibt. Beginnt er so Platz wie niedliche Tierbilder an den Wänden, die ei-
sich die Augen zu reiben, wird es schon kritisch.“ „Und nem anderen Bewohner wichtig sind. Jetzt muss Wolfgang
wenn er dann anfängt mit dem Fuß zu wippen“, ergänzt ihr Allstätter aber erst einmal zu Lukas, dem solche Details
Kollege Wolfgang Allstätter, stellvertretender Gruppenlei- ganz und gar nichts bedeuten. Auch bei ihm ist die Zim-
ter, „ist das ein deutliches Zeichen, ihm möglichst schnell mereinrichtung auf das Wesentlichste beschränkt. Lukas
Gelegenheit zu geben, in einer reizarmen Umgebung wie- hat nämlich die Neigung, im Erregungszustand alles zu
der zur Ruhe zu kommen.“ zerreißen und dabei ungeahnte Kräfte zu entwickeln.
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