Page 11 - DRW Gemeinsam - 10/2020
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Das Interview

       Elisabeth Balint: Das gibt es natürlich.          Tatsächlich werden
       Ich würde mir insgesamt viel mehr sach-
       liche Einordnung wünschen. Es nützt mir   dieses Jahr wieder deutlich   nen Nächsten wie Dich selbst“ lebt. Wenn
       nichts, wenn ich weiß, wie viele Leute an   mehr Menschen an Herz-     ich mich selbst liebe, kümmere ich mich
       Corona gestorben sind. Ich muss diese   infarkt und Schlaganfall       auch um mich und gebe mir, was ich brau-
       Zahl beziehen auf die Todesfälle insge-   sterben als an Corona.       che. Und schaffe damit die Basis, dem an-
       samt. Aber die Nachrichten zeigen immer                                deren geben zu können, was er braucht.
       die schlimmsten Bilder. Zahlen im oder unter dem einstel-  Ganz wichtig ist, noch ein Leben neben der Arbeit zu haben.
       ligen Prozentbereich sind natürlich für sich genommen   Das hält am Boden.
       wenig beeindruckend.                                   Und von Systemseite her ist es enorm wichtig, dass die Mitar-

       Tatsächlich werden dieses Jahr wieder deutlich mehr Men-  beitenden ihre Arbeit realistisch in der vorgegebenen Zeit und
       schen an Herzinfarkt und Schlaganfall sterben als an Coro-  im Hinblick auf die Ziele ihrer Tätigkeit schaffen können. Zu
       na. Und dafür sind die Hauptfaktoren schlechte Ernährung   diesen Zielen gehört auch die Menschlichkeit. 
       und Bewegungsmangel. Und die Einsamkeit. Wenn wir all   Gemeinsam: Welche Anforderungen werden die Mitarbeitenden
       das in der gleichen Intensität angehen würden wie Corona   in der Sozialbranche künftig verstärkt mitbringen müssen?
       – das wäre mein Traum.                                 Elisabeth Balint: Die Fähigkeit zur Priorisierung. Und die Fähig-
       Gemeinsam: Wie kommen wir langsam wieder zur           keit, das Spannungsfeld auszuhalten zwischen der Vorstellung
       Normalität zurück?                                     von einem idealen Tag und der Arbeitswirklichkeit mit knappen
       Elisabeth Balint: Das passiert schon allein dadurch, dass   Ressourcen.
       die Mehrheit der Menschen einen gesunden Verdrän-      Gemeinsam: Danke für das Gespräch.
       gungsmechanismus besitzt. Allerdings: Vor den Nachrich-                           Interview: Manuel Liesenfeld
       ten kann man sich schützen, indem man Radio und Fern-
       seher ausschaltet, nicht aber vor den Konsequenzen der
       Krise im täglichen Leben. Ich sehe in der Klinik zunehmend                    Uwe Lutchen ist Psychologe
       Patienten mit Traumatisierungen in der Lebensgeschichte,                      und arbeitet seit 2017 in der
       die sich der Situation hilflos ausgeliefert fühlen und wie-                   Universitätsklinik Ulm. Seit
       der Symptome entwickeln. Damit meine ich jetzt am we-                         Juni 2020 hat er die Psycho-
       nigsten die Maskenpflicht. Zeitweise war es nicht mehr                        somatische Sprechstunde
       möglich, einen Arzt zu erreichen oder eine Untersuchung                       übernommen
       zu bekommen, die nicht lebensnotwendig war. Und was ist   Die Psychosomatische Sprechstunde für
       schon lebensnotwendig? Die Panik bzw. die überforderten
       und auf eine Pandemie nicht vorbereiteten Systeme waren   Mitarbeitende im Dominikus-Ringeisen-Werk
       ein großes Problem.                                      Psychosomatik ist die Lehre von den Wechselwirkungen

       Gemeinsam: Beziehen Sie auch die Klienten unserer Ein-   zwischen Seele, Körper und Umwelt. Damit psychosoma-
                                                                tische Erkrankungen, die beispielsweise durch berufliche
       richtungen in Ihre Analysen mit ein? Was hat sich für sie   Zusammenhänge entstehen können, möglichst frühzeitig
       aus Ihrer Sicht verändert?
                                                                erkannt, verhindert und therapiert werden können, bie-
       Elisabeth Balint: Tatsächlich kommen nur selten Mitarbei-  tet das DRW seinen Mitarbeitenden in Zusammenarbeit
       tende zu mir, weil sie ein Problem mit Klienten haben.   mit dem Universitätsklinikum Ulm die „Psychosomati-
       Meist geht es um Probleme mit Kollegen, Vorgesetzten     sche Sprechstunde“ an. Sie beinhaltet u.a.
       oder der Familie – und natürlich mit sich selbst. Aus Sicht   – die individuelle Beratung zur derzeitigen Lebens-
       des Klienten kann ich daher eher aus meiner eigenen Er-    situation und möglichen Belastungen.
       fahrung sprechen: Meine Tante wohnt in einer Behinder-   – die diagnostische Abklärung von Symptomen und
       teneinrichtung und war wegen Corona-Fällen auf der         Therapieindikation/Therapieempfehlungen.
       Gruppe vier Wochen lang in Quarantäne, ohne Besuch. Am
       Schluss hat sie fast nicht mehr gesprochen, war nur noch   – 50 Minuten Beratungszeit, ggf. weitere Stunden,
       in sich gekehrt. Zum Glück hat sich das rasch wieder ge-   falls eine Kurzintervention nötig ist.
       bessert, als wir sie wieder besuchen konnten, und sie    – die Kostenübernahme durch das DRW.
       konnte wieder lachen.                                    – die selbstverständliche Achtung der ärztlichen
       Gemeinsam: Wie kann man psychosomatischen Krankheiten      Schweigepflicht.
       in Berufen in der Sozialbranche am besten vorbeugen?     Die Anmeldung erfolgt über das Uni-Klinikum Ulm,
       Elisabeth Balint: Schwierig, das in drei Sätzen zu sagen. In   Klinik für Psychosomatische Medizin und Psycho-
       aller Kürze und Einfachheit: Indem man den Satz „Liebe Dei-  therapie, Telefon 0731 500-61850.


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